Rezension

 

Expertise: Schutz begleitet geflüchteter Kinder und Jugendlicher

Sozial- und humanwissenschaftlicher Forschungsstand und die Rahmenbedingungen in Deutschland

 

124 Seiten, erschienen am 19. Dezember 2019

AutorInnen:

Dr. Thomas Meysen SOCLES International Centre for Socio-Legal Studies, Heidelberg Leitung SOCLES

Lydia Schönecker SOCLES International Centre for Socio-Legal Studies, Heidelberg Arbeitsbereich SOCLES Inklusion, Erziehung & Teilhabe

unter Mitarbeit von

Susanne Achterfeld Deutsches Institut für Jugendhilfe und Familienrecht e.V. (DIJuF), Heidelberg

 

Aufbau und Inhalt

In der Expertise geht es zu Beginn um den Begriff „Kinderschutz“ als politisch-strategische Begrifflichkeit, des Weiteren geht es um die Auseinandersetzung mit der abstrakten Kindeswohlgefährdung. Im Anschluss wird ein Konzept ausgearbeitet, welches Erkenntnisse zu Kindeswohl- und Kinderschutzbelangen darstellt. Ebenfalls geht es um Belastungen und Ressourcen vor, während und nach der Flucht sowie Gesundheit bei der Ankunft. Ebenso wie um die Risiko- und Schutzfaktoren und die Herausarbeitung der Bedürfnisse und Anforderungen an die Verwirklichung der Kinderrechte geflüchteter Kinder und Jugendlicher. Auch kommen Barrieren für den Zugang zu Beratung, Unterstützung, Behandlung und Therapie zur Sprache. Des Weiteren werden unterschiedliche rechtliche Grundlagen beleuchtet.

 

Inhaltsangabe:


Kinderschutz – Ein schillernder Begriff

Kinderschutz ist ein schillernder Begriff, der zu einer „nichtssagenden Universalformel für (fast) beliebige Inhalte“ geworden ist. Dies macht es schwierig, Aufgaben und Anforderungen zu präzisieren (S.12). Es wird aber zwischen präventivem und reaktivem Kinderschutz unterschieden. Das weite Begriffsverständnis meint den präventiven Kinderschutz mit Angeboten der Infrastruktur und gezielten Einzelfallhilfen. Im engeren Sinne ist mit Kinderschutz der reaktive Kinderschutz gemeint, wenn also bereits eine Kindesmisshandlung, Vernachlässigung oder sexueller Missbrauch im Raum stehen.

Geflüchtete Kinder erleben oft, in Zeiten des ungeklärten Aufenthaltsstatus ihrer Eltern strukturell angelegte Diskriminierung. Sie werden nicht als individuelle Persönlichkeit wahrgenommen, sondern finden sich in einem für erwachsen Geflüchtete System wieder (S.14). Zum weiteren Verständnis von Kinderschutz und dessen wichtige Elemente geflüchteter Kinder und Jugendlicher ist dieser noch einmal in vier Ebenen aufgeteilt worden: Die Individuelle Ebene (microsystem) à Verarbeitung des Erlebten durch die Kinder und Jugendlichen. Die Familienebene (mesosystem) à Gewährleistung des Kindeswohls durch die Eltern und ggf. andere Erziehungsberechtigte. Die Sozialraumebene (macrosystem) à Altersgerechte Umgebung und sichere Orte und die Gesellschaftsebene (chronosystem) à Schutz vor Ablehnung und Diskriminierung (S.17).

 

Besondere Schutzbedürftigkeit – Die Individuelle Ebene

Die Flucht wird in drei Abschnitte eingeteilt: Vor, während und nach der Flucht. Vor der Flucht spielen vor allem die Lebensumstände, die die Familie zur Flucht gebracht haben eine große Rolle. Auf der Flucht können oftmals die elementaren Rechte und Grundbedürfnisse der Kinder und Jugendlichen nicht erfüllt werden. Hinzu kommen Erlebnisse und Verarbeitungsweisen. Diese können auch vor der Flucht schon eine Rolle spielen. Nach der Flucht geht es vor allem um die Verarbeitung des Erlebten. Passiert dies nicht, kann dies Folgen der weiteren Entwicklung, sowie psychische Erkrankungen wie Depressionen, PTBS, Essstörungen, Lernschwierigkeiten etc. mit sich bringen. Hierbei ist auch anzumerken, dass die Belastungen nach der Flucht schwerer wiegen als vor und während der Flucht.

 

Risiko- und Schutzfaktoren

Für geflüchtete Kinder und Jugendliche spielt die Familie eine Schlüsselrolle: Sie kann sowohl eine Ressource als auch ein Risiko darstellen. Als Ressource dient sie vor allem bei einem hohen Grad an Familienzusammenhalt, einer guten Kommunikation und einem niedrigen Konfliktniveau. In einer Erstunterkunft zum Beispiel gibt es für Familien meist keine Möglichkeit selbstgewähltes Essen zuzubereiten und gemeinsam zu essen. Stattdessen werden drei Mal am Tag zu festgelegten Zeiten Mahlzeiten ausgegeben. Da gemeinsame Mahlzeiten und selbstgewählte und zubereitete Speisen aber ein wichtiges Ritual für Familien sein kann, ist diese Tatsache kritisch zu betrachten.

Grundsätzlich ist das Wohlbefinden der Kinder auch stark an das der Mutter gekoppelt und dient auch als Stabilisierung. Es kann zu erhöhten psychischen Belastungen bei den Kindern führen, wenn ihre Eltern sich nicht mit den Erziehungsmethoden und kulturellen Gegebenheiten im Ankunftsland identifizieren (S. 32).

Besonders in einer Erstaufnahmeunterkunft ist es schwierig, Kindern, Jugendlichen und ihren Familien ein angemessenes Umfeld mit Freizeitmöglichkeiten und ausreichender Privatsphäre zu bieten. Das Risiko an psychischen Krankheiten zu erkranken ist höher als bei Geflüchteten, die in einer Wohnung leben. Der Einbezug in das soziale Umfeld gilt bei Kindern und Jugendlichen für die Entwicklung als protektiver Faktor. Hierbei tritt jedoch oft die Problematik auf, dass sie ihre Freund*innen aus Schamgefühl oftmals nicht in die Unterkunft einladen und somit der soziale Einbezug erschwert wird. Daher haben Kontakte zu anderen Geflüchteten besondere Bedeutung (S. 36). Diskriminierungserfahrungen wie erhebliche Zugangsbarrieren zu Bildung sind ebenfalls hinderlich für die weitere Entwicklung und bergen Risiken für psychische Erkrankungen.

 

Gesellschaftsebene: Aufenthaltsstatus und Integration

Der ungeklärte Aufenthaltsstatus kann zu einem belastenden Zustand werden. Er bringt Sorgen über die ungeklärte Zukunft mit sich und kann ebenfalls zu Diskriminierungserfahrungen führen. Die Akkulturation sowie die fehlenden Systemkenntnisse stellen ebenfalls Herausforderungen dar. Man unterscheidet zwischen unterschiedlichen Akkulturationsstilen: Assimilation, Integration, Segregation und Marginalisierung. Bei Segregation und Marginalisierung steigt das Risiko an einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) oder einer Depression zu erkranken.

 

Verbesserung der Situation durch bedarfsgerechte Beratung, Unterstützung und Versorgung

Kinderschutz taucht im Zusammenhang mit geflüchteten Minderjährigen oft nur auf, wenn es z.B. um drohende Genitalverstümmelung, häusliche Gewalt oder übermäßiger Einschränkung der Autonomie von minderjährigen Mädchen geht. Dadurch entsteht auch im Kinderschutz eine Diskriminierung. Denn fraglich ist bisher, ob Kinder und Jugendliche mit ungeklärtem Aufenthaltsstatus den gleichen Schutz vor Misshandlung, Vernachlässigung etc. genießen wie andere (S. 50). Da oft großes Misstrauen gegenüber dem Hilfesystem besteht, ist es wichtig, den Empfänger*innen genügend Zeit einzuräumen, um das nötige Vertrauen fassen zu können. Sprache und Kommunikation sind grundsätzliche Voraussetzungen für eine gelingende Arbeit. Hierbei können zum Beispiel Sprachmittler*innen unterstützen, wenn die Kinder und Jugendlichen noch kein Deutsch sprechen. Die Sprachmittler*innen sind ebenfalls als Hilfe für den Brückenbau zwischen zwei Familien zu sehen. Es sollten grundsätzlich niedrigschwellige universelle Angebote, aber auch bedarfsabhängige Angebote geschaffen werden. Ebenfalls von Bedeutung ist eine gute Vernetzung, um so gegebenenfalls an andere Stellen weitervermitteln zu können (S. 55). Die familienzentrierte Unterstützung ist ein wichtiger und protektiver Faktor vor psychischen Erkrankungen. Dies ist hilfreich, da die Kinder und Jugendlichen meist auch in ihrer Heimat bereits sehr familienzentriert aufgewachsen sind.

Eine Barriere bei zum Beispiel notwendigen psychotherapeutischen Behandlungen ist oftmals die Bürokratie, bzw. die Prüfverfahren aufgrund von noch nicht geklärtem Aufenthalt etc. (S. 63). Die medizinische Versorgung ist in erster Linie auf „akute Erkrankungen und Schmerzzustände“ beschränkt (§ 4 AsylbLG) (S. 64).

Unterkünfte und Einrichtungen haben den Mindeststandard eines Schutzkonzeptes zu erfüllen. Es muss zum Beispiel sichergestellt werden, dass es geschlechtergetrennte und abschließbare Sanitäranlagen gibt, sowie geschützte Wohnbereiche für Familien (S. 67).

 

Rechtlicher Rahmen – Verantwortung für Hilfe und Schutz

Als erzieherische Hilfen und Schutz durch die Kinder- und Jugendhilfe sollen vom örtlichen Jugendamt feste Ansprechpartner*innen des Kinderschutzes für Kinder und Jugendliche der Erstaufnahmeunterkünfte eingerichtet werden. Laut UNICEF-Fallstudie ist dies noch nicht eingeführt worden, wäre aber eine wichtige Maßnahme des Kinderschutzes. Denn auch Familien in Erstaufnahmeeinrichtungen haben ein Recht auf Unterstützung durch die Kinder- und Jugendhilfe (S. 78). Auch bei der Anmeldung für einen Kitaplatz gibt es Schwierigkeiten, wenn der Aufenthaltsstatus noch nicht geklärt ist. Da jederzeit eine freiwillige/unfreiwillige Ausreise der Familie anstehen könnte, ist die Kitasuche erschwert. Auch die Finanzierung dieses Platzes ist nicht immer klar geregelt oder einfach. Ein hilfreiches Angebot für geflüchtete Eltern ist die Erziehungsberatung (§ 28 SGB VIII) (S. 79). Ebenfalls kann, bei Problemen innerhalb der Familie, eine Sozialpädagogische Familienhilfe nach § 31 SGB VIII installiert werden.

Auch die Gesundheitsversorgung ist ein großes Thema:
Laut Regelung des § 4 Abs. 1 AsylbLG steht geflüchteten Menschen nur eine ärztliche Versorgung bei akuten Erkrankungen oder Schmerzzuständen zu. Dies erschwert auch den Zugang zu oftmals benötigten Psychotherapien bei Posttraumatischen Belastungsstörungen, Depressionen o.ä. Diese wird auch nur in akuten Fällen übernommen (S. 85). Nach § 1666 Abs. 1 BGB sind auch ausländische oder geflüchtete Kinder und Jugendliche mit einbezogen und sind somit vor Kindeswohlgefährdung zu schützen (S. 86).

 

Kinderschutz in Einrichtungen für geflüchtete Menschen – Eine gemeinsame Aufgabe

Meist wird von den Einrichtungen als einziger Kooperationspartner das Jugendamt gesehen. Allerdings müsste eine integrierte Kinder- und Jugendhilfeplanung vorhanden sein. Dies sollte in allen Einrichtungen zum Standard zählen. Vernetzen sich Arbeitskreise, könnte die Verpflichtung gesteigert werden (S. 88 f.). In der Verordnung des Ministeriums für Migration, Justiz und Verbraucherschutz des Freistaates Thüringen wird jede Einrichtung dazu verpflichtet ein individuelles Schutzkonzept auszuarbeiten.

Es ist außerdem wichtig, sensibel mit persönlichen Daten umzugehen. Sie dürfen nur nach ausdrücklicher Einwilligung des/der Betroffenen weitergegeben werden. Entscheidend ist auch, was mit den Daten passiert. Droht jedoch eine nicht anders abwendbare Gefährdung, dürfen Daten auch ohne Einwilligung weitergegeben werden (S. 91).

 

Kinderschutzstandards – Strukturell sichern, in Kooperation leben

Es ist nur begrenzt erforscht, ob geflüchtete Kinder und Jugendliche den gleichen Schutz vor Vernachlässigung, Misshandlung und Missbrauch, sowie die gleiche Förderung erhalten, wie alle anderen Kinder und Jugendlichen. Erhalten sie jedoch ausreichend Förderung im Ankunftsland, stehen die Chancen jedoch gut, dass sie später erhebliche Ressourcen und Resilienz aufweisen (S. 93). Kinder haben jedoch nur ein gewisses Zeitfenster für bestimmte Entwicklungen. Erfolgen diese nicht, kann es zu schädigenden Ausführungen kommen (S. 94).

Aufgabe des Kinderschutzes in Einrichtungen ist es, den Familien geschützte Räume zur Verfügung zu stellen und dafür zu sorgen, dass die Eltern sich als schützend, stark und sorgend wahrnehmen können. So kann einer drohenden Entmächtigung entgegengewirkt werden. Zu einer Bemächtigung gehört ebenfalls, die Eltern bei der Be- und Verarbeitung ihrer eigenen Belastungen zu unterstützen (S. 94). Auch der Rollentausch (passiert meistens, wenn die Kinder die Sprache schneller lernen als die Eltern und dann Aufgaben übernehmen) soll verhindert werden. Die Kinder und Jugendhilfe hat die Aufgabe, Kontakte und Freundschaften zur Mehrheitsgesellschaft herzustellen. Kinder brauchen ebenso anregende Räume zum Spielen, wie Jugendliche Freizeitaktivitäten nachgehen können (S. 97). Auch bei der Akkulturation sollte Unterstützung geboten werden und keine einseitige Integrationsanforderung gestellt werden (S. 98).

Geflüchtete Menschen erfahren oft Diskriminierung. So ist die Anwendung des Asylrechts schon eine strukturelle Benachteiligung. Auch sind Erstunterkünfte meist sozialräumlich ausquartiert und tragen so zur Marginalisierung bei.

Abschließendes Fazit des Textes ist: „Politik, Praxis und Gesellschaft sind aufgefordert, grundlegende Verbesserungen für die Bedingungen des Aufwachsens, für das Wohl und die Teilhabe von geflüchteten Kindern und Jugendlichen mit und ohne Behinderung sowie ihre Familien zu erarbeiten“ (S.101).

 

Thema

In der Expertise „Schutz begleitet geflüchteter Kinder und Jugendlicher“ geht es um Kinderschutz geflüchteter Kinder und Jugendlicher in deutschen Erstunterkünften. Es werden verschiedene Aspekte beleuchtet, die maßgeblich das Kindeswohl beeinflussen. Hierbei werden detailliert unterschiedliche Perspektiven wie die medizinische Versorgung, rechtliche Grundlagen sowie die besondere Schutzbedürftigkeit geflüchteter Kinder und Jugendlicher thematisiert. Auch kommen Risiko- und Schutzfaktoren zur Sprache, sowie mögliche Veränderungen zur Verbesserung der aktuellen Situation hinsichtlich des Kinderschutzes bei geflüchteten Kindern und Jugendlichen. Es geht vor allem um resilienzstärkende und schützende Faktoren und Umstände, die von Einrichtungen und anderen Institutionen, sowie der Politik und der Gesellschaft geschaffen werden oder noch geschaffen werden sollten. Nur so kann Kinderschutz auch für geflüchtete Kinder in Deutschland sichergestellt werden.

 

Diskussion

Der Aufbau der Expertise ist strukturiert und thematisch logisch sortiert. Es wird dargelegt, welche Defizite der Kinderschutz bei geflüchteten Kindern und Jugendlichen aufweist. Diese sind verschiedenen Themenbereichen untergeordnet, um eine Struktur zu schaffen.

Es wird logisch dargelegt in welchen Bereichen Handlungsbedarf besteht. Auch wird thematisiert, dass geflüchtete Kinder und Jugendliche diskriminiert werden, da sie gesondert nach dem Asylrecht behandelt werden. Dies ist ein sehr wichtiger und wesentlicher Aspekt, weshalb das Thema Kinderschutz geflüchteter Kinder und Jugendlicher gesondert betrachtet werden sollte.

 

Fazit

Die Expertise ist sehr informativ, gut strukturiert und verständlich geschrieben. Sie zeigt wichtige Einflussfaktoren für den Kinderschutz von geflüchteten Kindern und Jugendlichen auf, benennt Weiterentwicklungs- und Verbesserungspotentiale und zeigt Kritikpunkte auf.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Quelle: https://www.plan.de/fileadmin/website/05._Ueber_uns/Presse/Fluechtlinge/SOCLES_Schutz_begleitet_gefluechteter_Kinder_Expertise.pdf