Rezension der Publikation Psychologie für die Arbeit mit Migrant*innen (Link zum Verlag)

Die Rezension von Nina Frey zum Herunterladen als PDF: Beitrag Psychologie Arbeit mit Migranten

Eine psychologische Perspektive auf die Arbeit mit Migrant*innen

Das, was die Arbeit der ambulanten Erziehungshilfen des Bonner Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelles Lernen e.V. so besonders macht, ist die Zielgruppe dieser Hilfen. Hierbei handelt es sich um Menschen mit Migrationsgeschichte oder Fluchterfahrungen, die aus den verschiedensten Gegenden der Welt ihren Weg nach Deutschland gefunden haben. Sie kommen mit unterschiedlichen Geschichten und Problemen und kein*e Klient*in ist wie die/der andere. Doch eine Gemeinsamkeit unserer Klientel lässt sich hervorheben, nämlich die Begegnung mehrerer Kulturen. Die Erziehungshilfe oder sozialpädagogische Familienhilfe findet in einem interkulturellen Rahmen statt und die Ethik der professionellen Sozialen Arbeit verpflichtet zu einer kultursensiblen Praxis.

Damit wären wir bei dem Thema dieses Buches angelangt. Es soll unter Verwendung psychologischer und therapeutischer Erkenntnisse zu einem reflektierten und professionellen Umgang mit Menschen mit Migrations – und Fluchtgeschichte beitragen.

Das Buch

Das Buch mit dem Titel “Psychologie für die Arbeit mit Migrant*innen” ist 2021 erschienen und von Jan Ilhan Kizilhan und Claudia Klett verfasst worden. Es behandelt die professionelle Arbeit mit Migrant*innen aus einer psychologischen Perspektive heraus. Dabei widmet es sich Themen wie der grundlegenden Bedeutung von Kultur für die Zusammenarbeit mit zugewanderten Menschen, Auswirkungen der Migration auf Identität, Beziehungen und Verhaltensweisen, wie auch Handlungsmöglichkeiten für eine kultursensible Kommunikation. Es soll ein Verständnis für die Lebensrealität von geflüchteten und migrierten Menschen schaffen und bietet mit Fallbeispielen aus der Praxis und interaktiven Reflexionsübungen gerade für sozialpädagogische Fachkräfte, die innerhalb eines interkulturellen Feldes agieren, eine anschauliche Lektüre, die eine kultursensible Praxis bereichern kann.
Das Buch ist in 11 Kapiteln aufgeteilt, die wiederum in drei Teilen geordnet sind:

I Grundlegende psychologische Perspektiven auf Migration
II Transkulturelle Perspektiven auf spezifische psychologische Themen
III Ansätze und Methoden für die transkulturelle Praxis

Des Weiteren enthält es ein Glossar und ein Literaturverzeichnis.

Ich werde im folgenden Text auf die Bedeutung von kultureller Prägung und den Einfluss von Kultur auf die Arbeit mit Migrant*innnen eingehen. Darauf aufbauend möchte ich den kulturell geprägten Umgang mit Krankheit und Gesundheit, insbesondere psychischer Erkrankung thematisieren und wie diesem in der Praxis sensibel begegnet werden kann. Daran soll sich ein kleiner Exkurs in die kultursensible Biographiearbeit in Verbindung mit der Begleitung von Traumata anschließen.

Die Autor*innen

Prof. Dr. Dr. Jan Ilhan Kizilhan ist promovierter Psychologe, Soziologe und Orientalist. Seine Arbeit beschäftigt sich vor allem mit Transkultureller Psychiatrie, kultursensibler Psychotherapie, Traumatologie, Migration und Minderheitenreligion.

Claudia Klett ist Diplom-Pädagogin und als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Transkulturelle Gesundheitsforschung der Dualen Hochschule Baden-Württemberg tätig.

Der Unterschied zwischen kollektiv geprägten Gesellschaften und individuell geprägten Gesellschaften

Jeder Mensch ist im Laufe seines Lebens von einer oder mehreren Kulturen geprägt worden. Dies passiert in der Regel unbewusst und es ist uns meist nicht klar, wie sehr unsere Verhaltensweisen und unsere Sicht auf die Gegebenheiten, Menschen und Verhältnisse unserer Umwelt von der Kultur, in der wir aufgewachsen sind, beeinflusst werden.
Um den Begriff Kultur anschaulicher zu machen, möchte ich an dieser Stelle aus dem Buch zitieren: “Unter “Kultur” kann allgemein der “Rahmen” für die Lebensgestaltung der einzelnen Mitglieder einer Gesellschaft verstanden werden, der Möglichkeiten des Verhaltens, des Denkens und des Fühlens anbietet. Sie umfasst somit grundsätzlich das gesamte “Gewebe” der Lebensformen, welches eine Gesellschaft von anderen unterscheidet.” (Kizilhan/Klett 2021, S. 13).
Die Kultur, in der wir aufwachsen, bestimmt nicht unsere gesamte Identität, ist jedoch ein erheblicher Teil dieser und bestimmt zum Beispiel die Normen und Werte, die wir für wichtig für eine funktionierende Gesellschaft erachten, mit. Wenn wir nun mit Menschen aus einem anderen Land in Kontakt treten, bringen wir auch unsere eigene Kultur in diesen Kontakt mit rein. Dies hinreichend zu reflektieren ist ein entscheidender Faktor für eine gelingende, kultursensible psychosoziale Arbeit.
Dafür kann man sich zum Beispiel fragen, wie in der eigenen Kultur mit Geschlechterrollen umgegangen wird oder was Tabuthemen sind. Wie ist die eigene Familie aufgebaut? Welche Regeln oder Rituale gibt es und wie werden Konflikte ausgetragen? Oder was eine entscheidende Frage sein kann: “Welche Bedeutung haben Individuum und Gruppe?” (ebd., S. 32).

Die kulturelle Identität der Adressat*innen gilt es im Laufe der Arbeit, zum Beispiel durch gezielte Biographiearbeit zu erfragen. Natürlich kann es hilfreich sein, sich vor Beginn der Fallarbeit mit dem Herkunftsland der Klient*innen und damit verbundenen Sitten und Bräuchen zu beschäftigen. Jedoch birgt dies auch die Gefahr, verallgemeinernde Sichtweisen auf Angehörige einer bestimmten Kultur zu reproduzieren und Klient*innen schon vor dem ersten persönlichen Kontakt zu stereotypisieren. Hier gilt es eine offene und nachfragende Haltung zu entwickeln, um sich einen unvoreingenommenen Blick auf Adressat*innen mit Migrationsgeschichte zu erhalten (vgl. Ebd., S. 29).

Dies vorweg, lassen sich dennoch grundlegende kulturelle Unterschiede gerade in Hinblick auf Familiensysteme und – dynamiken feststellen. Die Bedeutung der Familie für das Individuum ist besonders für die sozialpädagogische Familienhilfe wichtig, um die Beziehungen und Rollen innerhalb einer Familie nachvollziehen zu können.
Dabei macht es bezüglich der kulturellen Ausprägung einer Familie einen Unterschied, ob diese aus einer traditionell-kollektivistisch geprägten Gesellschaft stammt oder aus einer westlichen, individualistischen Gesellschaft.
Einer traditionell-kollektivistischen Kultur, wie es sie beispielsweise in “türkischen oder auch den südeuropäischen und kleinasiatischen, ländlich geprägten Gesellschaften” (ebd., S. 77) gibt, liegt eine hierarchische Gesellschaftsordnung und verbindliche Zugehörigkeit in sozialen Gruppen zugrunde. Das Wohl des Kollektivs, in diesem Falle die Familie, steht im Fokus und soll mithilfe von festgelegten Rollen und Verhaltensregeln garantiert werden. Die soziale Ordnung richtet sich in vielen Fällen nach einer Religion aus und ist mit festen Ritualen verbunden. Die Gruppenzugehörigkeit ist hier sehr wichtig für den Status eines Individuums und identitätsstiftend. Daher bedeutet ein Bruch mit Verhaltensregeln der Gruppe ein bedeutender Verlust des sozialen Status und die damit verbundene Sicherheit durch eine Gruppe (vgl. Ebd., S. 78). Das Individuum wird generell in Hinblick auf dessen sozialen Umfelds wahrgenommen und die damit verbundene Rolle innerhalb des hierarchischen Gefüges (vgl. Ebd., S.79). Dieser Umstand ist bei der Arbeit mit Menschen aus kollektivistisch geprägten Gesellschaften unbedingt zu beachten und auf die praktischen Methoden der SPFH bezogen kann diese Gruppenzugehörigkeit oder die enge Einbindung in die Familie als Ressource genutzt werden.
Den traditionell kollektivistischen Kulturen stehen die westlichen, eher individualistisch geprägten Kulturen gegenüber, worunter natürlich auch Deutschland fällt und damit die kulturelle Prägung vieler unserer Fachkräfte, die in der SPFH tätig sind. In westlichen, individualistischen Gesellschaften sind Familienkreise auch bedeutsam für das Individuum, jedoch werden tendenziell die individuellen Ziele und das persönliche Wohl über kollektive Gruppenziele oder das Wohl eines sozialen Systems gestellt. Soziale Beziehungen werden als flexibel wahrgenommen und es gibt die Möglichkeit, sich aus solchen zurückzuziehen.
Die Fachkraft sollte sich dieser kulturellen Unterschiede bezüglich der Bedeutung von Individuum und sozialer Netzwerke bewusst sein und darauf aufbauend versuchen, bei traditionell-kollektivistisch geprägten Familien auf mögliche hierarchische Ordnungen und vorgegebene Verhaltensregeln zu achten. Vor diesem Hintergrund bietet es sich auch immer an, nochmal die eigene Prägung zu reflektieren. Welchen Umgang mit Hierarchien und Verhaltensregeln innerhalb der Familie erlebt die Fachkraft vielleicht in dem eigenen persönlichen Umfeld oder allgemein in der westlich geprägten Gesellschaft, wie Deutschland eine ist (vgl. Ebd., S. 79)?

Transkulturelle Perspektive auf psychische Erkrankungen

Das Wissen über den Aufbau einer Familie durch kulturelle Prägung kann auch sehr hilfreich sein, um zu verstehen, wie der Umgang mit Gesundheit und Krankheit innerhalb einer traditionell-kollektivistischen Familie aussehen kann und wie darauf (kultur-)sensibel und professionell reagiert werden kann.

Es sei jedoch erwähnt, dass Migrationserfahrungen nicht zwingend zu psychischen Erkrankungen führen. Des Weiteren ist es auch wichtig darauf hinzuweisen, dass sich unter dem Begriff “Migration” verschiedenste Lebenswelten und Erfahrungen sammeln.
So definiert das Statistische Bundesamt Menschen mit Migrationshintergrund folgendermaßen: “Eine Person hat einen Migrationshintergrund, wenn sie selbst oder mindestens ein Elternteil nicht mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren wurde. Im Einzelnen umfasst diese Definition zugewanderte und nicht zugewanderte Ausländerinnen und Ausländer, zugewanderte und nicht zugewanderte Eingebürgerte, (Spät-) Aussiedlerinnen und (Spät-) Aussiedler sowie die als Deutsche geborenen Nachkommen dieser Gruppen. Die Vertriebenen des Zweiten Weltkrieges haben (gemäß Bundesvertriebenengesetz) einen gesonderten Status; sie und ihre Nachkommen zählen daher nicht zur Bevölkerung mit Migrationshintergrund.”[1]
Manche Migrationserfahrungen sind von Flucht geprägt, andere nicht und wie damit umgegangen wird und das Ankommen in einem erstmal fremden Land verarbeitet wird, hängt auch von den Personen und ihrer Resilienz ab.
Dennoch ist eine Migrationserfahrung eine Herausforderung. Sie bedeutet für die Menschen, die diese durchleben “Trennung und Entwurzelung, der Verlust familiärer und nichtfamiliärer Bezugspersonen, Identitätsprobleme und Rollenverluste, eine fragliche Zukunft und Orientierungslosigkeit, unklare rechtliche Rahmenbedingungen des Aufenthalts (z.B. drohende Abschiebung), eine unfreiwillige Unterbringung in Sammelunterkünften, sprachliche und kulturelle Verständigungsprobleme, Generationenkonflikte, innerfamiliäre Zerreißproben, eine unsichere Arbeitssituation oder Arbeitslosigkeit, finanzielle Krisen, Diskriminierung und das Gefühl, bedroht zu werden, sind nur einige der Herausforderungen, mit denen sich zugewanderte Menschen konfrontiert sehen können” (Kizilhan/Klett 2021, S. 38; zitiert nach Zeeb/Razum 2006; Assion 2005; Kirkcaldy et al. 2006).
Hinzu kommen insbesondere bei geflüchteten Menschen “Kriegserlebnisse, Folter oder Verfolgung, einhergehend mit möglichen transgenerationalen Traumata, (die) auch vor und in der Migration und über mehrere Generationen wirken”(Kizilhan/Klett 2021, S. 119). Wir erleben gerade jetzt durch den Krieg in der Ukraine einen Zuwachs an geflüchteten Menschen, die eben diese Thematiken mit nach Deutschland bringen und sehr unter der Flucht und des Verlustes ihrer Heimat leiden.

Die Situation im Aufnahmeland, die von sozioökonomischer Unsicherheit, kulturellen und sprachlichen Barrieren geprägt sind, können sogenannten “Akkulturationsstress” auslösen und psychische Belastungen (wie bspw. Depressionen, psychosomatische Beschwerden, Somatisierung und posttraumatische Belastung) begünstigen (ebd., S. 120).
Um psychischen Problemen im Rahmen der SPFH mit helfender Hand zu begegnen, ist unter anderem zu beachten, dass es hinsichtlich des Verständnisses von Krankheiten kulturelle Unterschiede gibt.
Die Autor*innen des Buches konzentrieren sich unter anderem auf das muslimische Krankheitsverständnis, das in der Behandlung von Krankheiten und der Begleitung von muslimisch sozialisierten Menschen eine große Rolle spielen kann. Wie stark der Umgang von Krankheit und Gesundheit von religiösen Vorstellungen beeinflusst wird und inwieweit sich dies auf das Alltagsleben auswirkt, “hängt mit dem Herkunftsland, der Schulbildung sowie der sozialen und wirtschaftlichen Situation (der Klient*innen) zusammen” (ebd., S. 123). Dies muss natürlich auch wieder in der Fallarbeit beachtet werden.
Jedoch weisen die Autor*innen darauf hin, dass in manchen Gebieten des Nahen und Mittleren Ostens magische Vorstellungen und traditionelle Medizin noch weit verbreitet sind und auch Erklärungsmodelle für physische, wie auch psychische Erkrankungen, die auf der Existenz von Geistern basieren, durchaus bestehen. Der Glaube an eine magische Ursache für eine Erkrankung schlägt sich auch in dem Umgang mit dieser nieder. Wird beispielsweise geglaubt, dass der erkrankte Zustand nur durch magische und göttliche Macht geändert werden kann, kann daraus schnell eine passive Haltung erwachsen. Dies wiederum kann auch zu einer unkritischen Haltung gegenüber Medikamenten führen und es wird bspw. die Einnahme von Antidepressiva gegenüber einer Gesprächstherapie bevorzugt (vgl. Ebd., S. 125).
Um psychische Erkrankungen und deren Behandlung kultursensibel mitzugestalten und begleiten zu können, sollten die Vorstellungen zu Entstehung und Umgang von psychischen Erkrankungen unbedingt bei Klient*innen thematisiert werden. Werden mögliche traditionell-religiöse Umgangsweisen besprochen, können sie auch nachhaltig als Ressource in Verbindung mit westlichen psychosozialen Behandlungsmethoden angewendet werden. So können zum Beispiel Dschinnen, Geister, Kultstätten, magische Steine, Gebete und vieles mehr eine Bewältigung psychischer Erkrankung und den damit verbundenen Belastungen unterstützen (vgl. Ebd., S. 125).

Kulturspezifische Symptome

Während der Fallarbeit im Rahmen der sozialpädagogischen Familienhilfe bekommen Fachkräfte einen tiefen Einblick in den Alltag und die Beziehungsstruktur der Familien, mit denen sie arbeiten. Sie werden mit verschiedenen Problemen und Belastungen konfrontiert, bei denen sie helfen sollen. Dabei trifft die Fachkraft vielleicht auch auf psychische Belastungen, deren sich die Klient*innen noch nicht bewusst sind. Besonders bei dem Verdacht auf psychische Erkrankungen muss beachtet werden, dass auch Krankheitssymptome kulturell geprägt sind. So sind zum Beispiel die Diagnosekriterien des ICD-11 (die internationale statistische Klassifikation von Krankheiten) oder des DSM-5 (Handbuch mit Diagnosekriterien für die Klassifizierung von psychischen Erkrankungen) westlich geprägt und schließen somit nichtwestliche Krankheitsvorstellungen aus (vgl. Ebd., S. 126). Da sich aber in Deutschland vornehmlich an eben diesen Kriterien bei der Diagnose von psychischen Erkrankungen orientiert wird, kann es schnell zu Fehldiagnosen kommen. So können zum Beispiel auch bestimmte magische Glaubensvorstellungen fälschlicherweise als wahnhaft gedeutet oder als Symptome für eine schizophrene Erkrankung wahrgenommen werden, wobei sie in ihrem “herkunftskulturellen Kontext nicht pathologisch” (ebd., S. 126) sein müssen.

Neben Fehldiagnosen besteht aber auch die Gefahr, dass Symptome, die durchaus auf eine psychische Erkrankung hinweisen, übersehen werden, da sie der westlichen Symptomatik fremd sind. In dem Buch wird darauf hingewiesen, dass besonders unter Menschen aus traditionellen Gesellschaften psychisches Leid oftmals in Form von körperlichen Beschwerden ausgedrückt wird. Über körperliche Schmerzen können so innerpsychische Konflikte und sogar Traumatisierung thematisiert werden.

In einigen traditionellen Gesellschaften sind Krankheitsbilder eng mit spezifischen Organen des Körpers verbunden. So können beispielsweise Rückenschmerzen im Nahen und Mittleren Osten ein Ausdruck für familiäre Konflikte, Sorgen, Rollenproblematik oder schwerer Arbeit sein. In Südchina ist zum Beispiel der Begriff der “Wander – und Windschmerzen” bekannt; diese sind von Müdigkeit und Antriebslosigkeit gekennzeichnet und hinzu kommen Schmerzen, die jeden Tag an einer anderen Stelle des Körpers auftreten. Diese können bei wenig Akzeptanz in der Familie auftreten und Sorgen, wie auch Konflikte, mit denen sich die betroffene Person konfrontiert sieht, ausdrücken.
Eine Übersicht solcher kulturspezifischen Symptome ist in Form einer Tabelle m Buch abgebildet (ebd., S. 129: Tabelle 3). Sie bildet kulturspezifische Syndrome ab, die zum Beispiel im Nahen und Mittleren Osten, in Südchina und Lateinamerika verbreitet sind.

Für die konkreten Bewältigungsstrategien psychischer Erkrankungen ist auch die gesellschaftliche Prägung, wie auch die Beziehungen innerhalb der Familie von Bedeutung. In vielen traditionellen Gesellschaften sind körperliche Erkrankungen gesellschaftlich akzeptierter als psychische. Unter der Beachtung, dass die Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft und der Status innerhalb dieser von hohem Wert ist für Menschen, die in einer kollektivistischen Gemeinde aufwachsen, kann der Ausdruck psychischer Beschwerden über die körperliche Ebene eine Möglichkeit sein, die Selbstachtung zu wahren und die gesellschaftliche Zugehörigkeit nicht zu gefährden (vgl. Ebd., S. 131). Des Weiteren wird die Hoffnung auf schnelle und unkomplizierte Heilung geweckt. Die Vorstellung, zum Beispiel Rückenschmerzen durch Schmerzmedikamente, Schonung des Körpers oder Massagen zu behandeln, erscheint natürlich auch als einfache Lösung. Doch ist dies keine nachhaltige Lösung des tatsächlichen, tiefer, in der Psyche liegenden Problems.

In traditionell-kollektivistischen Familien ist das Wohl der Gemeinschaft und die darin festgelegten Rollen ein hohes Gut und das kann dazu führen, dass bestimmte psychische Beschwerden von Individuen verschwiegen werden, um die Familie nicht zu belasten. Dies kann natürlich dazu führen, dass die Erkrankung schlimmer wird und der Druck, die psychischen Probleme selbst und schnell zu lösen, um wieder ein funktionierendes Mitglied der Familie sein zu können, größer wird. Wird das daraus resultierende Leiden zu groß um es zu verbergen, kann es dazu kommen, dass eine Krankenrolle eingenommen wird, um zu verdeutlichen, dass die bisherige Rolle innerhalb der Familie nicht mehr ausgefüllt werden kann (vgl. Ebd., S. 131).
Diese Krankenrolle, die überwiegend körperliches Leid betont, macht es möglich, dass Betroffene ihre Ehre nicht verlieren. Familienangehörige aus kollektivistisch aufgebauten Familien reagieren schnell mit einer “übermäßigen” Versorgung. Dies wiederum kann ein Verharren der betroffenen Person in der Krankenrolle zur Folge haben und der Umgang mit dieser Rolle kann ein wichtiges Thema für die psychosoziale Arbeit mit der Familie sein. Dabei sollten die familiären Beziehungen als Ressource genutzt werden; zum Beispiel können Familienmitglieder mobilisiert werden, um die betroffene Person im Alltag zu entlasten (bspw. Verwandte, die zeitweise die Kinderbetreuung übernehmen, um der Überforderung der Mutter entgegenzutreten). Was aber noch entscheidender ist, ist die Kommunikation mit der Familie zu psychischen Erkrankungen. Dabei sollte über die jeweilige Krankheit aufgeklärt, wie auch über das angemessene Verhalten gegenüber eines betroffenen Familienmitglieds im Alltag gesprochen werden.
Ein sensibel geführtes Gespräch über Stress, innerfamiliärer Konflikte und Sorgen der Familie kann dabei helfen, Beziehungsabhängigkeiten und Rollenkonflikte begreifbarer zu machen und daraus resultierende mögliche psychische Belastungen verständlicher machen (vgl. Ebd., S. 145). Solche Gesprächsthemen sind mitunter mit viel Scham verbunden und gerade in traditionellen Familien sind Gespräche über Konflikte und die Gefühle einzelner Familienmitglieder mit einer außenstehenden Person nicht unbedingt üblich. Eine behutsame Gesprächsführung ist hierbei sehr wichtig für einen lösungsorientierten Umgang mit solch sensiblen Themen.
Neben kulturellen Barrieren kann auch die sprachliche Barriere es Familien erschweren, sich zu öffnen und um dem entgegenzuwirken, ist der Einsatz von Sprachmittler*innen unumgänglich. Sie übersetzen nicht nur sprachlich, sondern bringen unter Umständen ein viel intuitiveres Gespür für die Kultur der Klient*innen mit. Sprachmittler*innnen sollten mit kulturspezifischen Symptomen, wie auch kulturspezifischen Fachbegriffen vertraut sein, um so die Fachkraft darin zu unterstützen, Symptome richtig zu deuten und kultursensibel damit umzugehen (vgl. Ebd., S. 159).

Besteht nun von Seiten der SPFH der Verdacht auf eine psychische Erkrankung bei dessen Klient*in, besteht die nächste Herausforderung in einer passenden Vermittlung an eine*n Therapeut*in.
Dabei ist es wichtig, darauf zu achten, dass die Psychiater*innen und Psychotherapeut*innen transkulturell geschult sind und somit verschiedene kulturelle Vorstellungen von Ursachen und Umgangsweisen von Krankheiten in die Behandlung miteinbeziehen kann (vgl. Ebd., S. 141).
Über eine Möglichkeit der therapeutischen Behandlung von psychischen Erkrankungen muss im Vorfeld eingehend mit der betroffenen Person gesprochen und in dem Zuge über die Zusammenhänge von körperlichen und psychischen Vorgängen aufgeklärt werden. Eine gemeinsame Psychoedukation, die sich an dem Bildungsniveau und dem kulturellen Verständnis der erkrankten Person orientiert, soll “die Eigenverantwortung und Selbstwirksamkeitsüberzeugung im Umgang mit den Krankheitssymptomen (…) fördern” (ebd., S. 142). Zur Unterstützung können Selbsthilfebroschüren und Videos in der jeweiligen Muttersprache eingesetzt werden. Hierbei kann es auch sehr hilfreich sein, die Familie der betroffenen Person ebenfalls über die Charakteristika einer psychischen Krankheit und der entsprechenden Behandlungs – und Therapiearten zu informieren.

Wie kann eine kultursensible Begleitung von Traumabewältigung aussehen?

Wie schon erwähnt, sollte nicht automatisch von einer Traumatisierung bei Menschen mit Migrationsgeschichte und Geflüchteten ausgegangen werden. Jedoch kann es natürlich vorkommen, dass auch das Thema Trauma in die Arbeit von den Klient*innen mitgebracht wird. Dabei kann es sich um sehr verschiedene Lebensgeschichten und Ursachen handeln. Es kann sich auch um transgenerationale Traumata handeln, die zum Beispiel von Migrant*innen an ihre in Deutschland aufgewachsenen Kinder weitergegeben werden oder kollektive Traumata, die eine Ethnie oder Glaubensgemeinschaft erlebt hat.
Auch wenn die psychosoziale oder sozialpädagogische Arbeit keine therapeutische Behandlung ersetzt, kann sie dennoch unter Anwendung von trauma – und kultursensiblen Methoden der Biographiearbeit stabilisierend wirken.

Folgende Faktoren sind für eine kultursensible Traumabegleitung essentiell:

  • Herstellung von Sicherheit
    (die Klient*innen müssen auf einen sicheren Rückzugsort zurückgreifen können; bei Geflüchteten bedeutet dies auch eine Klärung des Aufenthalts)
  • Einbeziehung der individuellen und kollektiven Kultur und Lebenswelt der Betroffenen
    (die kulturell geprägte Sichtweise und Bewertung hinsichtlich des Traumas der betroffenen Person sollte ermittelt und berücksichtigt werden)
  • Rekonstruktion der Geschichte des Traumas, Biographiearbeit, unter Berücksichtigung transgenerationaler und kollektiver Traumata
  • Erfassung und Einbezug individueller und kollektiver bzw. Kultureller Ressourcen
    (die Traumatisierung darf nicht der alleinige Fokus sein; für die Person wichtige Bewältigungsstrategien, auch aus dem Herkunftsland, müssen miteinbezogen werden)
  • Berücksichtigung der gesellschaftlichen und institutionellen Strukturen und Dimensionen, Vermeidung einer Retraumatisierung
    (Beachtung des Verhältnisses zwischen individuellen Bewältigungsstrategien und gesellschaftlichen Ressourcen)

(vgl.Kizilhan/Klett 2021, S. 168 f)

Den kleinen Exkurs in das Themengebiet der Traumabewältigung möchte ich mit ausgewählten transkulturellen Techniken für eine kultursensible Biographiearbeit, die ich dem Kapitel 10 “Die Bewältigung traumatischer Erlebnisse begleiten” entnehme, abschließen.
Für traumatisierte Menschen stellt es eine große Herausforderung dar, über belastende Ereignisse aus ihrer Vergangenheit zu sprechen. In manchen Fällen kann es schon eine Hürde sein, sich überhaupt daran zu erinnern. Um es Betroffenen zu erleichtern, über ihre Geschichte und dem damit verbundenen Leid zu reden, können für die Person bedeutsame Gegenstände oder aktiv gestaltete Abläufe in die Begleitung integriert werden. Dabei sollte immer darauf geachtet werden, dass die betroffene Person zu jeder Zeit selbst entscheiden kann, wie viel sie wann preisgibt (vgl. Ebd., S. 169).

Einsatz von Gegenständen

Mit dem Einsatz von Gegenständen, die für die betroffene Person bekannt und emotional von Bedeutung ist, kann ein Erzählprozess unterstützt werden. Dabei handelt es sich immer um sehr individuell an die Person angepasste Gegenstände. Das kann ein Foto von dem Herkunftsort sein, um den zurückgelegten Lebensweg zu thematisieren oder man kann mithilfe eines Gegenstandes die Lieblingsbeschäftigung des/der Klient*in symbolisieren (eine Blume für Gartenarbeit oder einen Pinsel für kreative Betätigung). Um zum Beispiel einen Bezug zu religiösen und kulturell geprägten Vorstellungen herzustellen, kann man einen blauen Stein (zur Abwehr vom bösen Blick) oder eine Gebetskette miteinbringen.

Memory-Karten

Eine etwas spielerische Methode ist der Einsatz von Memory-Karten. Auf jede Karte wird ein für die betroffene Person wichtiges Lebensereignis geschrieben und dann umgedreht und gemischt. Die Person deckt eine Karte auf und erzählt etwas zu diesem Ereignis. Dies wird wiederholt und immer versucht, einen Zusammenhang zwischen den Ereignissen herzustellen.

Stammbaum

Bei dieser Methode wird der traditionell-kollektiven Prägung von vielen Migrant*innen Rechnung getragen. Die Familie und die Herkunft sind wichtige Bestandteile der individuellen Identität und Erlebnisse können transgenerational weitergegeben werden und von großer Bedeutung für das Individuum sein.
Ähnlich wie in der Genogrammarbeit, werden visuell die Generationen und Beziehungen innerhalb der Familie des/der Klient*in dargestellt. Hinzu kommt bei dieser Methode aber noch die Integration von bedeutenden Lebensereignissen. Bei der Ausgestaltung des Baumes mit Wurzeln, Baumstamm, Krone und Ästen sind der Kreativität keine Grenzen gesetzt und es sollen auch hier wieder möglichst die Zusammenhänge zwischen dem Erlebten und der Familiengeschichte in den Blick genommen werden.

Aktives Erzählen

Um das Erlebte zeitlich zu ordnen, kann auch ein Seil als eine Art Zeitstrahl oder Lebenslinie verwendet werden. Dies wird auf dem Boden ausgebreitet und daran kann die betroffene Person verschiedene Symbole entlang des Seiles legen, die jeweils für eine Phase ihres Lebens steht. Solche Symbole können Bilder, Steine oder Blumen sein. Daraufhin erzählt die Person etwas zu diesen Lebensphasen.

Hat man viel Platz zur Verfügung, kann das Erzählen auch von Schritten, die die Person macht, begleitet werden. So stellt sich die Person an eine Stelle im Raum, an der die Lebensgeschichte beginnen soll und macht bei jeder Erzählung eines Lebensabschnitts einen Schritt.

Begleitende Aktivitäten

Manchen Menschen hilft es, während des Erzählens von für sie beschämenden oder belastenden Erlebnissen einer beruhigenden Tätigkeit nachzugehen. Das kann das Kreisen einer Gebetskette in den Händen sein, Stricken oder einfach das Drücken eines Knautschballs.

Fabeln und Erzählungen aus dem Herkunftsland

Wir sind alle mit prägenden, kulturspezifischen Erzählungen und Geschichten aufgewachsen, die von Generation zu Generation weitergegeben werden. Das Einbringen von aus dem Kulturkreis der betroffenen Person stammenden Fabeln in das Gespräch kann helfen, die Kindheitserinnerungen der Person zu thematisieren oder eine vertraute Atmosphäre zu schaffen, in der zum Erzählen angeregt wird.

Fazit

Die interkulturelle Arbeit mit Menschen mit Migrations – oder Fluchtgeschichte stellt Fachkräfte immer wieder vor großen Herausforderungen. Sie verpflichtet zu ständiger Reflexion der eigenen kulturellen Prägung, zeigt zu weilen Grenzen in westlich geprägten Arbeitsmethoden auf und konfrontiert mit verschiedensten Lebenswelten und kulturell unterschiedlich geprägten Sichtweisen. Hinzu kommt die institutionelle und gesellschaftliche Eingebundenheit, innerhalb derer soziale Fachkräfte agieren und die wiederum auch von Diskriminierung gegenüber Minderheiten und nicht – westlicher Kulturen geprägt ist.
Dabei ist es von Wichtigkeit, sich als Fachkraft als Teil dieses Systems wahrzunehmen und dies in Hinblick auf die Arbeit mit Migrant*innen zu reflektieren.
Bei all diesen Unterschieden und Stolpersteinen kann es für die Praxis einer würdevollen und akzeptierenden, zwischenmenschlichen Arbeit zuträglich sein, immer wieder auch die Gemeinsamkeiten von Kulturen und weniger die Unterschiede zu betonen, um auf Augenhöhe mit den Klient*innen agieren zu können.
Dazu ist die Einbindung von Erkenntnissen aus wissenschaftlichen Disziplinen wie der Psychologie, aber auch der Soziologie, Pädagogik und Kulturwissenschaft in die Soziale Arbeit unabdingbar.

Als letzten Impuls dafür möchte ich an dieser Stelle den kurzen Vortrag von Jan Ilhan Kizilhan zu dem Thema “Traumabewältigung” nennen, den er anlässlich einer TEDx Veranstaltung in Stuttgart gehalten hat (der genaue Titel und der dazugehörige Link sind im untenstehenden Quellenverzeichnis aufgeführt).

Quellenverzeichnis

Kizilhan, Jan I./ Klett, Claudia (2021): Psychologie für die Arbeit mit Migrant*innen. Weinheim: Beltz Juventa.

Migrationshintergrund. Statistisches Bundesamt (Destatis), 2022.
Online unter: https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Migration-Integration/Glossar/migrationshintergrund.html
letzter Zugriff: 03.05.2022

TEDx Talks (29.Oktober 2019): Traumabewältigung in Krisengebieten und Migration I Jan Ilhan Kizilhan I TEDxStuttgart. YouTube.
Online unter: https://www.youtube.com/watch?v=H2HxoRO0JFY
letzter Zugriff: 03.05.2022

 

[1] https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Migration-Integration/Glossar/migrationshintergrund.html